Erinnern Sie sich noch an Ihr letztes Whisky-Tasting? Nun gut, das mag pandemiebedingt schon etwas weit zurückliegen. Doch bestimmt hat der Referent oder die Referentin während der Verkostung das mit einem Dram gefüllte Glas geschwenkt und Sie freudestrahlend auf die Schlieren, also das Tropfenmuster am inneren, oberen Rand des Glases, hingewiesen. Und gewiss wurde dann auch erzählt, dass die Größe und Geschwindigkeit der gebildeten Tropfen am Glasinneren beim Zurückfließen in die Flüssigkeit etwas über den Körper und gar über die Qualität des Whiskys aussagen.
Fragen über Fragen…
Wirklich? Geht so etwas? Auf den ersten Blick klingt das doch eher nach dem berühmten Blick in eine Kristallkugel. Doch mit der heutigen Ausgabe unserer Reihe wollen wir hier mal genauer nachforschen. Sozusagen noch tiefer in die Mysterien der Whiskys eintauchen. So stellen wir uns also die Fragen: Wie funktioniert das? Ist so eine Vorhersage überhaupt möglich? Gibt es eine plausible Erklärung dafür und wenn ja, welche? Steckt am Ende gar ein naturwissenschaftliches Phänomen dahinter? Diese oder ähnliche Fragen beschäftigten wohl auch einen italienischen Physiker, allerdings bereits gut 150 Jahre vor uns. Sein Name: Carlo Giuseppe Matteo Marangoni.
Die Tränen des Weins
Eben jener Carlo Marangoni beobachtete die oben beschriebenen Tränen bzw. Beine, die im deutschen Sprachgebrauch auch Kirchenfenster genannt werden, während des Verkostens von – wie könnte es für einen Italiener auch anders sein – Wein. Er untersuchte die Ursache für die „Tränen des Weins“ und veröffentlichte seine gewonnenen Erkenntnisse im Jahr 1865. Dieser Effekt, den Signore Marangoni beschrieb, hat mit Oberflächenspannung und Verdunstung von Flüssigkeiten zu tun. Und zwar von den Flüssigkeiten Wasser sowie Ethanol, unserem Trinkalkohol. Beide sind sowohl im Wein als auch in anderen Spirituosen, wie Whisky, enthalten.
Einfaches Experiment
Um das zu verstehen, machen wir ein einfaches Experiment, das Sie auch ganz leicht zu Hause nachstellen können. Wir nehmen eine Glasplatte (am besten die in einem gewöhnlichen Bilderrahmen) und geben mit einer Pipette nebeneinander je einen Tropfen Wasser und Brennspiritus darauf. Der Brennspiritus (meist 94 Volumenprozent Bioalkohol) ersetzt dabei das Ethanol, welches nicht jeder in reiner Form zu Hause haben dürfte. Wenn wir nun die Tropfen von oben und von der Seite betrachten, stellen wir folgendes fest: Während der Wassertropfen (links) eine deutlich kugelförmige Wölbung zeigt, liegt der Tropfen Brennspiritus (rechts) relativ flach und zudem etwas breiter im Durchmesser auf der Glasplatte. Dies hat mit der Oberflächenspannung der jeweiligen Flüssigkeiten zu tun, die wiederum von der Art der Teilchen in der Flüssigkeit bestimmt wird.
Oberflächenspannung
Zu kompliziert? Keine Sorge, wir gehen ins Detail. Im Wasser sind diese Teilchen die H2O-Moleküle. Sie üben Kräfte auf ihre Nachbarn, die anderen Wassermoleküle, aus. Und zwar sowohl anziehende als auch abstoßende Kräfte. An der Oberfläche des Tropfens, also der Grenzfläche von Wasser zu Luft, haben die H2O-Moleküle keine direkten Wasser-Nachbarn. Keine, auf die sie Kräfte ausüben können. Es gibt daher nur Zugkräfte ins Innere des Tropfens. Um diesem Ziehen nach innen entgegenzuwirken bzw. auszuweichen, möchte das Wasser seine Oberfläche gegenüber der Luft möglichst klein halten. Und die kleinstmögliche Oberfläche ist die einer Kugel. Daher die gewölbte Form des Wassertropfens. Oder anders formuliert: Das Bestreben einer Flüssigkeit, ihre Oberfläche möglichst klein zu halten, bezeichnet man als Oberflächenspannung.
Weniger Spannung bei Ethanol
Beim Wasser ist dieses Bestreben außergewöhnlich hoch. Die Oberflächenspannung ist temperaturabhängig und beträgt für Wasser 72,7 Einheiten bei 20°C. Die Einheiten sollen uns hier nicht näher interessieren, es geht lediglich um den Zahlenwert. Die Kräfte zwischen den entsprechenden Teilchen in unserem Trinkalkohol Ethanol, den C2H5OH-Molekülen, sind vergleichsweise schwach. Daher beträgt die Oberflächenspannung von Ethanol bei 20°C lediglich 22,5 Einheiten. Das erklärt, warum der Tropfen Brennspiritus – im Gegensatz zu Wasser – kaum gewölbt auf der Glasplatte liegt.
Verdunstung
Und eine weitere Erkenntnis gewinnen wir aus unserem Experiment: Bereits nach fünf bis zehn Minuten an der Luft ist der Tropfen Brennspiritus (rechts) nahezu vollständig verschwunden, während der gewölbte Wassertropfen (links) mehr oder weniger unverändert auf der Glasplatte verweilt. Der Grund für das rasche Verschwinden des Brennspiritustropfens ist die Verdunstung. Die Verdunstung einer Flüssigkeit hat mit ihrem Siedepunkt zu tun. Bei beiden physikalischen Prozessen – also Verdunsten und Sieden – geht eine Flüssigkeit in ein Gas über. Der Physiker spricht von einem Phasenübergang von flüssig nach gasförmig. Es gilt: Je niedriger der Siedepunkt desto rascher auch die Verdunstung. Macht ja auch Sinn. Da Ethanol einen Siedepunkt von 78,4°C hat, während Wasser erst bei 100°C siedet, verdunstet der Alkohol verhältnismäßig schneller.
Das war die Vorarbeit
So, das war jetzt die mühsame, jedoch notwendige Vorarbeit. Denn jetzt wissen wir, was Oberflächenspannung und Verdunstung sind und welche Phänomene dahinterstecken. Nun klären wir die Ursache für die „Tränen des Weins“ auf, die Carlo Marangoni 1865 veröffentlichte und die in der Fachwelt als „Marangoni-Effekt“ bezeichnet wird. Anstelle von Wein betrachten wir den Whisky. In beiden Fällen hauptsächlich eine Mischung von Wasser und Ethanol. Das Prinzip ist das gleiche.
Der Marangoni-Effekt
Wenn wir also das Glas mit Whisky schwenken, wird die Glasinnenwand mit einem dünnen Flüssigkeitsfilm benetzt. Dadurch bildet sich eine große Luftoberfläche an diesen Stellen. Das Ethanol hat – wie oben beschrieben – die Eigenschaft, schneller als Wasser zu verdunsten und entweicht als erstes aus diesem dünnen Whiskyfilm. Dadurch bleibt verhältnismäßig mehr Wasser übrig, welches sich aufgrund der hohen Oberflächenspannung zusammenzieht. Die Folge: Durch dieses Zusammenziehen zieht das Wasser den dünnen Whiskyfilm an der Glaswand nach oben, um den Unterschied der Oberflächenspannung auszugleichen. Dabei verdunstet das Ethanol wieder und das Wasser wird immer mehr. Am oberen Flüssigkeitsrand des Glases bilden sich also mit der Zeit durch diese Prozesse „verdunsten – Tropfenbildung – ziehen – verdunsten“ kleine Tropfen. Diese trotzen jedoch nicht der Schwerkraft, sondern fließen schließlich wieder an der Glaswand hinab. Carlo Marangonis berühmte „Tränen des Weins“. Nur, dass wir hier Whisky im Glas haben. Aber wie gesagt, das Prinzip ist das gleiche.
Die Interpretation
Nach der Verdunstung von Ethanol bleibt nicht nur Wasser in den Tropfen zurück. Es verbleiben auch die anderen, schwerflüchtigen Aroma- und Geschmackstoffe des Whiskys – die von der Herstellung und Fassreifung stammen – in unserem Flüssigkeitstropfen am oberen Rand des Glases. Diese Aroma- und Geschmackstoffe – wir nennen sie Extraktstoffe – erhöhen die Viskosität, also die Zähflüssigkeit unseres Tropfens. Wenn also die Tropfen beim Herunterlaufen sehr schnell und klein bzw. dünn sind, dann sind in unserem Whisky neben Wasser nur wenig Extraktstoffe enthalten und der Whisky wird verhältnismäßig leicht schmecken. Leicht im Sinne von weniger gehaltvoll, weniger Mundgefühl. Sind hingegen mehr Extraktstoffe enthalten, ist der Tropfen zähflüssiger und wird daher langsamer sowie dicker bzw. breiter herunterlaufen. Dann erwartet man eher einen gehaltvollen, mundfüllenden Whisky.
Welcher Whisky jedoch besser ist, besser im Sinne von Qualität und Geschmack, muss jeder selbst für sich entscheiden. Also, schenken Sie sich ein Glas Whisky ein und probieren Sie es aus. In diesem Sinne: Slàinte Mhath.