Himmlische Verluste
Von Dr. Heinz Weinberger
Heutzutage ist jedem, der sich mit Whisky beschäftigt, der Begriff Angel’s Share geläufig. Damit bezeichnet man den Volumenverlust von Flüssigkeit aus einem Whiskyfass, hervorgerufen durch Verdunstung. Hingegen konnten sich in den Anfängen der Fassreifung von Whisky die Brenner das Phänomen, dass ihr Whisky während der Lagerung und Reifung in einem Fass, welches absolut intakt und äußerlich keinerlei Undichtigkeiten aufwies, dennoch immer weniger wurde nur dadurch erklären, dass hier höhere Mächte im Spiel waren. Ihrer Ansicht nach holten sich auf diese Weise die Engel ihren Anteil von den Whiskyproduzenten gewissermaßen als eine Art Steuer, und so war der Begriff „Angel’s Share“ geboren.
In Schottland treten diese Flüssigkeitsverluste mit einer jährlichen Rate von durchschnittlich etwa 2 Prozent des Volumens auf. Das bedeutet, dass in acht Jahren ca. 15 Prozent des Whiskys allein durch Verdunstung verloren gehen (bei einem vollständig befüllten 250 Liter Hogshead sind das etwa 37 Liter); und nach 20 Jahren kann das Volumen gar um ein Drittel oder mehr reduziert werden (etwa 83 Liter Verlust). Bezogen auf die Gesamtmenge an Fässern, die derzeit in Schottland reifen – gemäß der Scotch Whisky Association waren es im Jahr 2017 um die 20 Millionen – beträgt der Anteil der Engel demnach jährlich etwa 400.000 Fässer, wenn man nur von gefüllten, 250 Liter fassenden Eichenfässern ausgeht. Bildlich übertragen, entspricht der Flüssigkeitsverlust dieser Fässer 40 olympischen Schwimmbecken (50m x 25m x 2m), die randvoll mit Scotch gefüllt sind! In heißeren Klimazonen wie Indien oder Taiwan erreicht die jährliche Verdunstung gar einen zweistelligen Prozentsatz.
Der Prozess der Verdunstung beginnt, sobald ein Fass mit frischem Destillat, also New Make, gefüllt ist. Da Fässer nur selten ganz voll befüllt werden, bleibt i.d.R. ein kleines Luftreservoir zwischen der Flüssigkeitsoberfläche und der Oberseite des Fasses übrig, der sog. Kopfraum (engl. headspace). Darüber hinaus absorbieren die Dauben innerhalb von 48 Stunden nach dem Befüllen eines frischen Eichenfasses etwa zwei Prozent des gesamten Spirituosenvolumens (engl. indrink), was zur Folge hat, dass der Headspace dementsprechend zunimmt. Beim Verdunsten verlassen chemische Substanzen (z. B. Wasser, Alkohole, Ester, flüchtige Schwefelverbindungen, etc.) die Flüssigkeit, steigen in den Kopfraum und suchen nach einem Weg aus dem Fass. Dabei können sie sowohl durch die Poren der Eichendauben als auch durch die winzigen Räume zwischen den einzelnen Dauben hindurchtreten und so ins Freie gelangen.
Die Eichenfässer werden mit frischem Destillat mit einem Ethanolgehalt von i.d.R. 63,5 Vol.-% befüllt. Dies bedeutet, dass der Rest – also etwa ein Drittel – aus Wasser besteht. Daher ist es wichtig, die Verdunstung von Wasser und Ethanol getrennt zu betrachten, denn beide entweichen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit aus dem Fass. Man tendiert dazu anzunehmen, dass Ethanol generell leichter aus dem Fass verdunstet als Wasser, da dieser doch flüchtiger ist. Tatsächlich hat sich gezeigt, dass für den Verdunstungsprozess die Temperatur eine wichtige Rolle spielt. Des Weiteren werden die relativen Unterschiede in der Verdunstungsrate aus dem Fass durch die Umgebungsbedingungen des Lagerhauses beeinflusst. Der Grund hierfür ist auf die Gesetze der Physik zurückzuführen: Ähnliche Systeme tendieren dazu, sich einander anzugleichen. Demnach versucht die Menge an Wasser im Eichenfass ständig, ein Gleichgewicht mit der Wasserkonzentration in der Umgebung außerhalb des Fasses – sprich mit dem Feuchtigkeitsgehalt im Lagerhaus – herzustellen. Dabei gilt: Je höher die Luftfeuchtigkeit in einem Lagerhaus, desto geringer der Anteil an Wasser, der aus dem Fass verdunstet. Denn die Atmosphäre, die das Fass umgibt, ist bereits mit Wasser „gesättigt“. Im Umkehrschluss fördert eine wasserarme Umgebung des Fasses, also eine trockenere Luft im Lagerhaus, eine verhältnismäßig stärkere Verdunstung des Wassers, um auf diese Weise die größeren Unterschiede zwischen dem Inneren und dem Äußeren des Fasses auszugleichen.
Ein Anstieg der Temperatur im Lagerhaus erhöht die Verdunstungsverluste von Ethanol und Wasser im Fass gleichermaßen, während die Luftfeuchtigkeit die relative Rate beeinflusst, mit der beide verloren gehen. Beide physikalische Messgrößen, also Temperatur und Luftfeuchtigkeit, werden von der Art des Reifelagers beeinflusst. In einem gedrungenen, traditionellen Dunnage-Lagerhaus mit offenem Lehmboden, in dem die Fässer bis max. drei Reihen übereinandergestapelt werden, ist die Luftfeuchtigkeit meist höher als in einem bis zu 12-stöckigen Palettenlager, dem Racked-Warehouse. Dieses mit einem Fundament aus Beton versehene Regallager ist darüber hinaus viel größer und höher, hat dünnere Wände sowie ein Metalldach. Dies hat zur Folge, dass äußere Temperaturschwankungen leichter ins Innere übertragen werden, als dies bei dem mit dicken Steinwänden und Schieferdach versehenen Dunnage-Lagerhaus der Fall ist. Während im gemäßigteren Schottland die obersten Fässer in einem Racked-Warehouse im Sommer im Durchschnitt eine Umgebungstemperatur von etwa 20°C erreichen und nur wenig überschreiten – verglichen mit 10-15°C in den unteren Reihen – herrschen im Süden der USA drastischere Bedingungen vor. Sofern keine natürliche oder forcierte Luftzirkulation vorgesehen ist, können hier im Sommer in den oberen Stockwerken der Lagerhäuser Temperaturen von 50°C und mehr erreicht werden, gegenüber 18-21°C im unteren Teil.
Auch sinkt die Luftfeuchtigkeit, je höher man in einem Regal- oder Palettenlager gelangt.
Halten wir also fest: Bei hoher Luftfeuchtigkeit geht verhältnismäßig mehr Ethanol als Wasser im Fass verloren und der Ethanolgehalt nimmt während der Reifung des Whiskys ab. Dies ist die typische Situation in Schottland, wo die relative Luftfeuchtigkeit oft 80-90 Prozent beträgt, insbesondere im Winter. Hingegen sind in relativ heißen und trockenen Klimazonen (z. B. Kentucky) die Wasserverluste schneller als der Verlust an Ethanol. Dies hat eine Erhöhung der Ethanolkonzentration während der Fassreifung zur Folge, heißt: Der Ethanolgehalt nimmt während der Reifung zu. Eine sich verändernde Menge an Ethanol im Fass nimmt Einfluss auf die Reifegeschwindigkeit und den Reifefortschritt des Whiskys. So kann ein Sinken der Ethanolstärke die Löslichkeit von Holz- und Destillatkomponenten beeinträchtigen, infolgedessen die Menge an ethanollöslichen langkettigen Estern, Fetten und Lignin-Bausteinen ab- und die an wasserlöslichen Zuckern und Tanninen zunehmen. Tannine leisten einen wesentlichen Beitrag zur Struktur und Balance des Whiskys, beeinflussen dessen Farbe und tragen zudem zu einem bitteren, holzigen und adstringierenden Geschmack bei. Schließlich könnte die Erhöhung des Gehalts an Extrakten und Holzaromen bei längerer Reifung den Destilleriecharakter des reifenden Whiskys zum Teil deutlich überlagern.
Zusammenfassend wird die Verdunstungsrate durch folgende Faktoren beeinflusst:
- Art des Reifelagers
- Umgebungstemperatur
- Luftfeuchtigkeit
- Füllstärke
- Position des Fasses im Lager
Aber nicht alles, was aus den Eichenfässern an Ethanol entweicht, ist allein den Engeln vorbehalten. Ein Organismus macht ihnen ihren Anteil streitig: Baudoinia compniacensis. Dieser schwarze, rußähnliche Pilz ernährt sich ebenfalls vom verdunstenden Ethanol, benötigt jedoch mindestens während einiger Jahreszeiten eine hohe Luftfeuchtigkeit, um seine Koloniebildung zu unterstützen. Er wächst an den Wänden von Lagerhäusern und breitet sich sogar auf umliegende Bäume, Sträucher und Gebäude aus. Reife Kolonien dieses Pilzes können dabei eine Dicke von 1-2 cm erreichen. Wenn Sie also das nächste Mal eine Destillerie besuchen, dann achten Sie auf diesen Pilz. Sollten Sie kein geschwärztes Lager sehen, ist dies ein Hinweis darauf, dass die Whiskys nicht vor Ort, sondern anderswo reifen.